Editorial

Seit knapp einem Monat herrscht in Deutschland der Ausnahmezustand. Das öffentliche Leben wurde in einem Ausmaß eingeschränkt, das noch vor wenigen Wochen undenkbar schien. Obwohl sich die Gefährlichkeit des Virus in China bereits deutlich abzeichnete, wurde sie lange ignoriert. Dann ging plötzlich alles ganz schnell.

Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und einen Kollaps des in den letzten Jahrzehnten kaputt gesparten Gesundheitssystems zu verhindern, wurden weitreichende Maßnahmen beschlossen. Konsequent sind diese aber nicht. Denn während wir uns privat nur noch zu zweit treffen dürfen, müssen Menschen weiterhin in Großraumbüros und Fabriken ihre Arbeit verrichten. Trotz der Aufforderung an die Bevölkerung die eigenen vier Wände möglichst nicht zu verlassen, sind tausende von Obdachlosen gezwungen, weiterhin auf der Straße zu leben – obwohl alle Hotels und Ferienwohnungen in Berlin gerade leer  stehen. So vehement das ‚social distancing‘ beschworen wird, um Leben zu retten – die Gewinne von Unternehmen und die Sauberkeit von Hotelzimmern dürfen dadurch nicht gefährdet werden.

Die Maßnahmen treffen in erster Linie den ärmeren Teil der Bevölkerung. So sind es vor allem schlecht bezahlte und prekäre Berufsgruppen wie Pfleger*innen, Mitarbeiter*innen von Supermärkten, Putzkräfte und Erzieher*innen, die durch eine deutlich höhere Belastung gezwungen sind, die Konsequenzen der Krise aufzufangen. Und während es sich im Garten der Villa am Wannsee in den Frühlingstagen wohl recht gut aushalten lässt, verursachen die Ausgangsbeschränkungen in Familien, die auf engstem Raum und ohne Balkon zusammenwohnen, eine enorme psychische Belastung. In der Krise treten die Klassenwidersprüche unserer Gesellschaft wieder deutlich zutage. Statt uns einreden zu lassen, dass wir nun alle in einem Boot säßen, wollen wir auf diese grundlegenden Missstände aufmerksam machen – und über Alternativen nachdenken, wie  unsere Gesellschaft organisiert werden kann. Dazu möchten wir mit dieser Zeitung einen Beitrag leisten.