[Kommentar] Eindrücke aus der Parallelwelt einer Erzieherin

Die Stimme der Schulleiterin schallt am Freitag durch die Sprechanlage: nach Vorgabe des Senats sei die Schule ab Dienstag geschlossen. Die Kakophonie aus Jubelrufen und hysterischem Weinen lässt nicht lange auf sich warten. Fragen über Fragen: Wann macht die Schule wieder auf? Ist die Klassenfahrt abgesagt? Haben wir jetzt Ferien? Kann ich meine Freunde dann nicht mehr treffen? Hat jemand an der Schule Corona? Viele Fragen bleiben an diesem Freitag unbeantwortet. Ruhe bewahren, trösten, ermutigen, Verunsicherung auffangen trotz der eigenen Unsicherheit.

Am folgenden Montag nochmal volles Haus; Materialien mitnehmen, die kommenden Wochen planen, essen gehen, ein letztes Mal mit den Freunden auf dem Schulhof spielen. Der Dienstschluss wird zwei Stunden vorverlegt. 

Ab Dienstag dann der Einsatz in der Notbetreuung. Da nur wenige Eltern Anspruch auf Notbetreuung haben sind dementsprechend wenig Kinder vor Ort. Das ermöglicht es, coole Sachen zu machen für die im Alltag wenig Zeit bleibt. Gleichzeitig heißt es Abstand halten, ständig Hände waschen, nicht ins Gesicht fassen, Türklinken, Fenstergriffe, Heizungsthermostate, Spülkästen, Telefone, Tische desinfizieren und regelmäßig schulfremde Personen dazu auffordern das Schulgelände zu verlassen. Der Blick aus dem Fenster in den nahegelegenen Park mit Spielplatz ist wie ein Blick in eine Parallelwelt. Trotz drohender Ausgangssperre ist es knackevoll. Da wird gerutscht, geschaukelt, Basketball gespielt, Eis gegessen, Bier in der ersten Frühlingssonne getrunken. Business as usual. Wie erklärt man Kindern diesen Unterschied, ohne Ängste zu befeuern? Für mich ist diese Situation schwer auszuhalten. Am darauffolgenden Montag treten die Ausgangsbeschränkungen in Kraft. Wer möchte, hat die Möglichkeit in der Notbetreuung für das Klinikpersonal auszuhelfen. Ich melde mich freiwillig. Aus Solidarität mit dem Personal im Gesundheitssektor – helfen wo es am dringendsten notwendig ist und dabei ein Stück Normalität aufrechterhalten. Das zu betreuende Kind ist erkältet. Von Trägerseite wurde mir versichert, nur gesunde, nicht kränkelnde Kinder können betreut werden. Ich spreche die Situation an. Ob mich das verunsichert, werde ich gefragt. Ich stehe zwei gesunden Erwachsenen gegenüber und halte zwei Meter Abstand. Mit dem erkälteten Kind ist das nicht so einfach. Sich an Vorgaben zu halten, die selbst Erwachsenen schwer fallen, kann man von Kindern nicht erwarten. Ja, das verunsichert mich. 

Viele der sogenannten systemrelevanten Berufe sind traditionell „Frauenberufe“ und gehören in den Bereich der Care-Arbeit. Kranken- und Altenpfleger*innen, Kassierer*innen, Reinigungskräfte und diverse andere Berufsgruppen erleben momentan endlich Anerkennung und Wertschätzung für ihre Arbeit. Da wird von Balkonen geklatscht, von Solidarität, besseren Arbeitsbedingungen und angemessener Bezahlung gesprochen. Erzieher*innen finden in diesen Aufzählungen nur selten bis gar keine Erwähnung. Auch der soziale Bereich wurde in den vergangenen Jahrzehnten systematisch kaputtgespart. In Zeiten von Covid-19 stehen Erzieher*innen im Umgang mit Kindern vor besonderen Herausforderungen. Effektiven Infektionsschutz zu gewährleisten, gestaltet sich in der Praxis schwierig. Kindern fällt es schwer, sich an Abstandsvorgaben und Hust- und Niesetikette zu halten. Altersabhängig brauchen sie Unterstützung beim Toilettengang, Händewaschen, Naseputzen und Essen. Sie suchen Trost und Nähe bei Erwachsenen und Kindern, verlieren sich im Spiel, fassen sich und anderen ins Gesicht und so weiter. Ob Schutzbekleidung ein angemessenes Mittel ist, um die Risiken zu mindern, ist fraglich. Was macht es mit Kindern, wenn sie von Menschen mit Masken und Gummihandschuhen betreut werden?

Auch Erzieher*innen setzen sich einem erhöhten Infektionsrisiko aus und tragen die psychischen Belastungen der Ausnahmesituation mit. Es bleibt zu hoffen und zu fordern, dass sich diese Erkenntnis in der Anerkennung und Wertschätzung des Berufes, sowohl monetär als auch in den Arbeitsbedingungen, widerspiegelt.